20. April 2024

Ein Mäntelchen für winterliche Zeiten

Christopher Nolans Science-fiction-Epos „Inception“

Neue Ideen sind ein rares Gut – sowohl in der Literatur, als auch in der Filmkunst. Handlungsstränge und -wendungen, dramaturgische Kniffe und menschliche Charaktere – letztlich findet man das meiste von dem, was heute anspricht und bewegt, in ähnlicher Form bereits in den alten griechischen Sagen. Um so lauter der Trommelwirbel, wenn eine offenbar innovative thematische Konzeption zum Nachdenken und Diskutieren einlädt.

2010 sorgte Christopher Nolans Science-fiction-Film „Inception“ für herausragende Kritiken. In der äußeren Gesamtanmutung – Bildsprache, Schnitt und Schauspielkunst – ist der Film ein hochprofessionell gestrickter, perfekt animierter, aber für das 21. Jahrhundert auch typischer, nervenaufreibender Thriller.

Wirklich bemerkenswert ist die Idee zu dem Streifen, die Regisseur und Drehbuchautor Christopher Nolan im Laufe von zehn Jahren entwickelte: Mit Hilfe spezieller Technologien sind seine Protagonisten (Leonardo DiCaprio & Co) in der Lage, sich in die Traumwelt anderer Personen „einzuklinken“ und deren Träume mitzugestalten. Dabei ist es auch möglich, einen Traum im Traum zu kreieren oder sogar einen Traum im Traum im Traum.

In Nolans Streifen geht es darum, der Zielperson während des Schlafes einen bestimmten Gedanken einzupflanzen (= eine „Inception“ durchzuführen), so dass sie nach dem Wiedererwachen davon überzeugt ist, selbst und aus eigener Motivation auf die Idee gekommen zu sein. Um dies zu erreichen (und diverse Komplikationen zu lösen, die sich während dieser Mission ins Unterbewusstsein ergeben) steigt das „Inception-Team“ letztlich in vier Traumebenen hinab, wobei jede dieser Ebenen ihre eigene zeitliche Dimension hat. Fünf Minuten in der physischen Welt entsprechen einer Stunde auf der ersten Traumebene, und diese eine Stunde wiederum entspricht 20 Stunden auf der zweiten Traumebene. Je tiefer die Ebene, desto „gedehnter“ erscheint die Zeit; wenige Momente können zu Jahren und Jahrzehnten werden …

Für Gesprächsstoff hat der Film „Inception“ wohl auch deshalb gesorgt, weil die Idee auf erlebbaren Gegebenheiten beruht. Die Erfahrung, dass die Zeit im Traum anders wirkt als im physischen Leben, wobei das Erlebte dennoch gleichermaßen „hautnah“ erscheint wie der Alltag im Wachbewusstsein, kann schließlich jeder selbst machen. In wenigen Sekunden „Echtzeit“ durchlebt man im Traum mitunter große Zeitspannen.

Aber die Analogie kann man bei „Inception“ noch weiterspinnen – zumindest als Anhänger eines dualistischen Weltbildes, demzufolge wir Menschen nicht nur physische Lebewesen sind, sondern auch Seelisch-Geistiges in uns tragen. Dann könnte man als unsere eigentliche Heimat das „noetische“, geistige Reich betrachten – eine Daseinsebene weit über der irdischen, physischen Welt –, in der ein anderes Zeiterleben herrscht. Das biblische Wort „Und tausend Jahre sind wie ein Tag“ bringt ja beispielsweise zum Ausdruck, dass in der Zeitspanne von nur einem Tag in diesem geistigen Reich so viel erlebt werden kann wie in tausend Erdenjahren.

Den Protagonisten um Leonardo DiCaprio hilft ein „Totem“ bei der Erkenntnis. Der Mensch taucht nun, ausgehend vom geistigen Reich, zum Zweck seiner Bewusstseinsentwicklung hinab in tiefer gelegene Ebenen, umhüllt sich dabei mit „gröberem Stoff“ und erlebt in jeder dieser Ebenen einen zunehmend dichteren, engeren Zeitbegriff, wobei sein Bewusstsein durch diese Umhüllung einem langsameren, „gedehnteren“, dafür aber stärker beeindruckenden Erleben verpflichtet wird. Schließlich, wenn er seinen Entwicklungsweg gut abschließen konnte, erwacht der Mensch wieder in seiner eigentlichen Heimat, im geistigen Reich. Und was ihm während seiner Wanderung durch die tieferen „Traumebenen“ als lang gedehnte, oft schicksalsschwere Zeitspanne erschienen sein mag, stellt sich nun als kurzer Moment im gesamten Sein dar, der aber wertvolle Impulse für das weitere, eigentliche Leben im Geistigen geboten hat.

Im Grunde zeigt die Filmhandlung von „Inception“ dieses Gleichnis: Die Protagonisten verlassen ihre eigentliche Wirklichkeit, um in „tieferen Ebenen“ mit unterschiedlichem Zeit-Erleben tätig zu werden.

Aber wer weiß, ob Drehbuchautor Christopher Nolan mit seinem Film wirklich ein Sinnbild für das dualistische Sein des Menschen kreieren wollte. Möglicherweise schöpfte seine Inspiration, wie das ja oft der Fall zu sein scheint, aus einer „Nachtseite“, die unsere Kreativität führt, owohl wir sie bewusst gar nicht überblicken. So hat das wirklich Berührende oder Faszinierende in der Handlung eines Films oder Romans oft einen versteckten Bezug zu unserer persönlichen Wirklichkeit. Durch die Buchseiten oder auf der Leinwand wird sichtbar, was sich üblicherweise nur in den „Qualia“ unserer Innenwelt abspielt. Aber eben dadurch vermag ein Thema, eine dramaturgische Entwicklung oder Lösung in außergewöhnlicher Art zu beeindrucken oder einfach zum tieferen Nachdenken einladen.

So könnte man auch in einem weiteren besonderen Detail des Films „Inception“ ein Innenwelt-Gleichnis erkennen: Die Protagonisten verwenden hier, um zuverlässig zu erkennen, ob sie sich nun auf einer Traumebene oder in der Wirklichkeit befinden, ein „Totem“, also etwas, das von „Traumarchitekten“ nicht technisch nachgebildet werden kann.

Das „Totem“ dient dazu, die Realität vom Traum unterscheiden zu können. Vielleicht sollte sich der Mensch, analog dazu, in der großen Frage nach seinem eigentlichen Wesen auch auf das besinnen, was ihm zuverlässig Auskunft über die geistige Wirklichkeit gibt und nicht technisch nachgebildet werden kann: auf die Empfindung – und nicht immer auf das „Traumwerkzeug Verstand“.

Und wie es für die Darsteller im Film letztlich darum geht, den Weg zurück in die Wirklichkeit zu finden, wozu ihnen ein bestimmter „Kick“ verhilft, also ein besonderer Anstoß, so könnte es tatsächlich darum gehen, einem Ruf zu folgen, der aus unserer geistigen Heimat hinab in das Alltagsleben tönt, um unsere Sehnsucht zurückzukehren zu wecken. Wem dieses Erwachen nicht gelingt, der könnte, wie es in „Inception“ heißt, im „Limbus“ gefangen bleiben …

Bemerkenswert ist auch, dass es zwischen den Märchen und Volkssagen der Vergangenheit und der Science-fiction-Welt von „Inception“ in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten gibt. Dort wie da leuchtet eine tiefere Weisheit hervor, ein großes Lebenssinnbild für unser Menschsein. Allerdings hüllt sich dieses im Fall von „Inception“ in ein besonders „cooles“ Mäntelchen. Dicht gewoben und sorgfältig verschlossen, ist es in seiner Gleichnishaftigkeit nicht so einfach zu ergründen.

Ein Wintermantel für das 21. Jahrhundert. Aber möglicherweise leben wir ja in winterlichen Zeiten.

(2010; 148 Minuten)